Gedichte

Zeitlos. Inspiration. Weisheit.


 

Ich suche nicht - ich finde.

 

Suchen – das ist Ausgehen von alten Beständen

und ein Finden-Wollen von bereits Bekanntem im Neuem.

Finden – das ist das völlig Neue!

Das Neue auch in der Bewegung.

Alle Wege sind offen und was gefunden wird, ist unbekannt. 

Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer!

Die Ungewissheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen,

die sich im Ungeborgenen geborgen wissen,

die in die Ungewissheit, in die Führerlosigkeit geführt werden,

die sich im Dunkeln einem unsichtbaren Stern überlassen,

die sich vom Ziele ziehen lassen und nicht – menschlich beschränkt und eingeengt – das Ziel bestimmen. 

Dieses Offensein für jede neue Erkenntnis im Aussen und Innen:

Das ist das Wesenhafte des modernen Menschen,

der in aller Angst des Loslassens

doch die Gnade des Gehaltenseins im Offenwerden

neuer Möglichkeiten erfährt. 

Pablo Picasso 

 


Was mich bewegt

 

 Man muss den Dingen 

die eigene, stille, 

ungestörte Entwicklung lassen, 

die tief von innen kommt, 

und durch nichts gedrängt 

oder beschleunigt werden kann; 

alles ist austragen – und 

dann gebären .... 

 

Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt 

und getrost in den Stürmen 

des Frühlings steht, 

ohne Angst, 

daß dahinter kein Sommer 

kommen könnte. 

Er kommt doch! 

 

Aber er kommt nur zu den Geduldigen, 

die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, 

so sorglos still und weit ... 

Man muss Geduld haben 

gegen das Ungelöste im Herzen, 

und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben, 

wie verschlossene Stuben, 

und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache 

geschrieben sind. 

 

Es handelt sich darum, alles zu leben. 

Wenn man die Fragen lebt, 

lebt man vielleicht allmählich, 

ohne es zu merken, 

eines fremden Tages 

in die Antwort hinein. 

Rainer Maria Rilke

 


Wer bin ich?

 

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

 ich träte aus meiner Zelle

gelassen und heiter und fest

wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

 

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

ich spräche mit meinen Bewachern frei

und freundlich und klar,

als hätte ich zu gebieten.

 

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,

ich trüge die Tage des Unglücks

gleichmütig, lächelnd und stolz,

wie einer, der Siegen gewohnt ist.

 

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?

Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?

Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,

ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,

hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,

dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,

zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,

umgetrieben vom Warten auf große Dinge,

ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,

müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,

matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

 

Wer bin ich? Der oder jener?

Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?

Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler

und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?

Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,

das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

 

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.

Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

Dietrich Bonhoeffer 1906 - 1945

 


 

  Johann Wolfgang Goethe: Dauer im Wechsel

 

Hielte diesen frühen Segen, 

Ach, nur Eine Stunde fest! 

Aber vollen Blütenregen 

Schüttelt schon der laue West. 

Soll ich mich des Grünen freuen, 

Dem ich Schatten erst verdankt? 

Bald wird Sturm auch das zerstreuen, 

Wenn es falb im Herbst geschwankt.

 

Willst du nach den Früchten greifen, 

Eilig nimm dein Teil davon! 

Diese fangen an zu reifen, 

Und die andern keimen schon; 

Gleich mit jedem Regengusse 

Ändert sich dein holdes Tal, 

Ach, und in demselben Flusse 

Schwimmst du nicht zum zweitenmal.

 

Du nun selbst! Was felsenfeste 

Sich vor dir hervorgetan, 

Mauern siehst du, siehst Paläste 

Stets mit andern Augen an. 

Weggeschwunden ist die Lippe, 

Die im Kusse sonst genas, 

Jener Fuss, der an der Klippe 

Sich mit Gemsenfreche mass.

 

Jene Hand, die gern und milde 

Sich bewegte, wohlzutun, 

Das gegliederte Gebilde, 

Alles ist ein andres nun. 

Und was sich an jener Stelle 

Nun mit deinem Namen nennt, 

Kam herbei wie eine Welle, 

Und so eilts zum Element.

 

Lass den Anfang mit dem Ende 

Sich in Eins zusammenziehn! 

Schneller als die Gegenstände 

Selber dich vorüberfliehn! 

Danke, dass die Gunst der Musen 

Unvergängliches verheisst, 

Den Gehalt in deinem Busen 

Und die Form in deinem Geist.

 

Quelle: Johann Wolfgang Goethe: Dauer im Wechsel. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Hrsg. von Hendrik Birus u.a. I. Abteilung: Sämtliche Werke Band 2: Gedichte. 1800–1832. Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1988, S. 78f.